Brams, Koen (Hrsg.): Erfundene Kunst. Eine Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1605 bis heute. Aus dem Niederländischen übersetzt von Ch. Kuby und H. Post. - Frankfurt am Main 2003.

Addenda

Arachne tätig in Hypaepa, Lydien
Verfertigerin von Tapisserien aus Lydien, ihrer Herkunft wegen auch Mäonerin genannt. Aus niederem sozialem Milieu stammend gründete ihr weit verbreiteter Ruhm ausschließlich in ihren künstlerischen Fähigkeiten. Arachne arbeitete im klassischen Familienbetrieb. Während sie selbst die Wolle zubereitete, wurde diese von ihrem Vater Idmon mit dem Saft phokäischer Muscheln gefärbt. Als Besonderheit darf es gewertet werden, daß Besucher nicht nur die fertigen Werke bewundern, sondern ihr auch bei der Arbeit in der Werkstatt selbst zuschauen konnten. Ihre golddurchwebten Bildteppiche, für die zahllose verschiedene Farben verwendet wurden, zeichneten sich durch zarte Schatten und unmerkliche Schattierungen bzw. Farbwechsel aus. Die dargestellten Szenen, die wie gemalt erschienen, bestachen durch eine fast unglaubliche naturalistische Wirkung. Die technische Perfektion dieser Arbeiten führte bei Arachne zu einer gewissen Überheblichkeit, die sie auch ihre nunmehr von ihr verleugnete Lehrmeisterin Pallas Athene zu einem Wettstreit im Weben auffordern ließ. Ihr Beitrag, Arachnes einziges näher bekanntes, jedoch leider nicht erhaltenes Werk, verriet dabei eine unglückliche Hand bei der Wahl der Motivik. Ungeachtet der traditionellen Themen aus der klassischen Mythologie war die Darstellung von Liebesgeschichten der Götter Jupiter, Neptun, Apoll, Bacchus und Saturn derart gewagt, daß Pallas Athene den mit einem blumendurchrankten Rand geschmückten Teppich zerriß und Arachne mit dem Webschiff auf die Stirn schlug. Als diese sich daraufhin mit einem Strick erdrosseln wollte, besprengte ihre erzürnte Kontrahentin sie mit dem Saft hekateischen Krauts. Trotz der dadurch hervorgerufenen grausamen Deformation ihres Körpers fuhr Arachne auch nach dem verhängnisvollen Wettstreit fort, auf ihrem angestammten Gebiet zu arbeiten. Ob dabei auch weiterhin dieselbe Qualität erzielt wurde, darf jedoch bezweifelt werden. [MB]
[Publius Ovidius Naso, Metamorphoses (dt. Verwandlungen), um 8 n. Ch.]

Ba-Bi-Bu tätig in den 1920er Jahren in Buenos Aires, Argentinien
Mit bürgerlichem Nachnamen Baumgarten geheißen. Argentinischer Schriftsteller. Vetter des Kunstkritikers Alexander Baumgarten. Lebte in den 1920er Jahren in Buenos Aires. Als Sohn reicher europäischer Einwanderer konnte er sein erstes Werk Tosco, der Riesenzwerg selbst verlegen. Es handelt sich dabei um eine Allegorie auf Uruguay, welches seinerzeit durch seinen wirtschaftlichen Erfolg das Selbstverständnis Argentiniens untergrub. Das Buch selbst ist aufwendig gestaltet. Der Einband wurde von Baumgarten entworfen. Die relativ wenigen Seiten enthalten den Text in übergroßen Zeilen, welche in den Seitenrändern verlaufen. Spötter meinten, dies Buch bestehe aus Ladenschildern. Alle Exemplare sind vom Autor auf dem Schmutztitelblatt signiert.
Das Werk blieb lange Zeit unbeachtet. In Buenos Aires hält sich bis heute hartnäckig die Legende, es seien noch ungeöffnete Pakete dieser Auflage in den Kellergeschossen irgendwelcher Buchhandlungen zu finden. Nachdem die argentinische Öffentlichkeit, insbesondere die sogenannten Literaturseiten der Zeitungen, ihn und sein Werk weitgehend ignorierten, gab er seiner Frau zuliebe das Schreiben auf. [MRW]
[Adolfo Bioy Casares, El Sueño de los heroes (dt. Der Traum der Helden), 1954]

Boscowan, William * wohl Cornwall, um 1900; † England, bald nach 1960
Englischer Landschaftsmaler, der sich vor dem Zweiten Weltkrieg großer Beliebtheit erfreute. Boscowan, der mit der für ihre monumentalen Statuen bekannten Bildhauerin Emma Wing verheiratet war, soll nach Berichten von Zeitgenossen recht eingebildet gewesen sein und litt wohl an einer Überschätzung seiner malerischen Fähigkeiten. Ansonsten galt er jedoch als liebenswert und freundlich und stand in dem Ruf, ein Weiberheld zu sein. Obwohl ein wenig zu Fülligkeit neigend, war Boscowan ein gutaussehender Mann. Mit seiner Kleidung - Samt- bzw. Cordjacke mit durchgewetzten Ellbogen, grüne oder gelbe Hemden - unterstrich er ostentativ sein Künstlertum.
Das umfangreiche Oeuvre des Malers besteht fast ausschließlich aus realistisch aufgefaßten stillen ländlichen Szenen, die in England, aber auch in Frankreich - meist in der Normandie - entstanden. Die Bilder zeigen in unaufgeregter Manier kleine Landhäuser ohne Bewohner in einsamer Landschaft, manchmal ein Bauernhaus mit ein oder zwei Kühen im Hintergrund, nur selten eine menschliche Figur. Oft erscheint die Bildoberfläche wie emailliert in einer besonderen Technik, die bei den Käufern seiner Werke auf Anklang stieß.
Ein charakteristisches, wenngleich sehr frühes Ölbild, das im Werkkatalog des Künstlers unter der Bezeichnung Haus am Kanal geführt wird, zeigt ein blaßrosa Haus an einem Kanal, der von einer kleinen hochgewölbten Brücke überspannt wird; in der Ferne stehen zwei Pappeln. Das Motiv des kleinformatigen Bildes, von Boscowan mehrfach variiert, ist identifizier- und lokalisierbar in der Gegend von Melfordshire. Ein am Ufer unter der Brücke festgemachtes leeres Boot mit der Bezeichnung Waterlily wurde im Nachhinein von einem Besitzer des Gemäldes aus persönlichen Gründen hinzugefügt (Privatsammlung Thomas und Prudence Beresford, England). Die Kunst Boscowans, der nach dem Krieg in Vergessenheit geraten war, kam nach seinem Tod in den späten 60er Jahren wieder in Mode. Zu dieser Zeit fand in der Londoner New Athenian Galery die letzte bekannte Retrospektive des Malers statt, auf der auch einige kleinere Arbeiten seiner Frau gezeigt wurden. Boscowan wurde nun als ein Gegenpol zur hektischen Gegenwart gewertet. Der besondere Reiz seiner Bilder bestehe in einem Gefühl der Isolierung. Als hätte er die Menschen entfernt, um die Friedlichkeit der Landschaft zu erhöhen, wie es einer der Kuratoren der Ausstellung ausdrückte. [MB]
[Agatha Christie, By the Pricking of my Thumbs (dt. Lauter reizende alte Damen), 1968]

Bristow, Frank * England, um 1900
Englischer Maler. Bristow wurde in den 20er Jahren bekannt durch Aquarelle, die in ihrer präzisen Technik kolorierten Stichen ähnelten. Ein Beispiel für den zeitanalytischen Blick des Künstlers ist die Arbeit „Der Ameisenhaufen“, eine Ansicht der mit Bussen und hastenden Passanten überfüllten Westminster Bridge. Sie wurde anläßlich einer Ausstellung der Bristowschen Aquarelle in den Harchester Galleries (London, Bond Street) gezeigt. Ein weiteres hier vorgestelltes Bild stellte einen Raum mit schwarz-weiß gewürfeltem Marmorfußboden dar, auf dem ein toter Harlekin in seinem schwarz-roten Kleid mit ausgestreckten Armen auf dem Rücken lag. Durch ein Fenster im Hintergrund richtete offensichtlich die gleiche Figur, sich scharf vor dem glühenden Rot der untergehenden Sonne abzeichnend, ihren Blick auf den im Raum liegenden Toten. Das imaginative Aquarell wurde durch die besondere Atmosphäre des Terrace Room in Charnley inspiriert und gab Anlaß zur Aufklärung des einige Jahre zurückliegenden Mordes an Lord Charnley. „Toter Harlekin“ war zuletzt bekannt als in der Privatsammlung Satterthwaite, London. [MB]
[Agatha Christie, The Dead Harlequin (dt. Der tote Harlekin), 1930]

Cavaradossi, Mario † Rom, 18. Juni 1800
Römischer Maler des Frühklassizismus. Lediglich über ein Werk des wohlhabenden und gutaussehenden Cavaliere sind wir näher unterrichtet. Das große Gemälde in der römischen Kirche von S. Andrea della Valle war eine ikonographisch ungewöhnliche Darstellung der Maria Magdalena mit großen blauen Augen und vollen goldblonden Haaren. Cavaradossi bediente sich hierbei des klassischen Verfahrens der Elektion, indem er einzelne genau wiedergegebene Details verschiedener realer Modelle unter der Leitidee vollkommener Schönheit miteinander verband. Als Vorbilder dienten ihm die Marchesa Attavanti und seine Geliebte Floria Tosca, eine gefeierte Sängerin. Sie gleichen sich an Schönheit, reflektierte der Maler, doch verschieden sind beide! Die dunkle Floria, die heiß für mich entbrannte. [...] Und jene fremde Schöne mit den blonden Haaren: Blau sind ihre Augen, schwarz sind die von Tosca! [...] Einzig die Kunst vermag es, solche Gegensätze zu vereinen! Floria Tosca konnte jedoch dem gewählten künstlerischen Prinzip nur wenig abgewinnen und bestand darauf, die Maria Magdalena als ein Portrait von ihr selbst auszuführen. Cavaradossis schwärmerische Bemerkung: Doch hier in diesem Bilde lebt ein einzger Gedanke: meine Liebe gilt nur dir, Tosca nur dir! verrät demgemäß die ungenügend gefestigte ästhetische Position des Malers.
Auch Cavaradossis Frömmigkeit wurde bezweifelt, er galt als Voltaireianer, Ketzer und Feind der päpstlichen Regierung. Überliefert ist sein Ausruf nach der Nachricht vom Sieg Napoleons bei Marengo am 14. Juni 1800: Viktoria! Viktoria! Freiheit, leuchte uns rot, bring den Feinden den Tod! Steig empor, Freiheit! Schlagt die Tyrannen tot! Als Anhänger der Ziele der französischen Revolution unterstützte der Künstler Cesare Angelotti, einen Konsul der im Jahr zuvor gestürzten römischen Republik, bei seiner Flucht vor den Schergen des Königs von Neapel, der die Stadt besetzt hatte. Im Zuge dieses Engagements fiel Cavaradossi jedoch einer Intrige des Polizeichefs, Baron Scarpias, in der sich Politik und dessen persönliche Eifersucht auf die Gunst Floria Toscas verbanden, zum Opfer und wurde in der Engelsburg erschossen. [MB]
[Victorien Sardou, Giuseppe Giacosa, Luigi Illica, Tosca (dt. Tosca), 1899]

Chigi, Giovansimone genannt Cattivanza oder Meister des Jüngsten Tages; * vermutlich Florenz, zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts; † im Kloster der Seraphischen Brüder von den sieben Schmerzen zwischen Florenz und Rom, 1535
Florentiner Baumeister, Maler und Bildhauer der Renaissance. Chigi hatte seine Werkstatt auf dem alten Markte neben den Trödlerbuden. Unser Wissen über den Künstler verdanken wir lediglich dem Bericht seines Schüler, des späteren Organisten Pompeo dei Bene, der seinen Meister dessen ungeachtet als hochberühmt bezeichnet. Über sein architektonisches Schaffen ist nichts bekannt. Dagegen trugen die malerischen und bildnerischen Werke Chigis, die in seiner Jugendzeit entstanden und wie auch sein späteres Oeuvre wohl ausschließlich religiöse Themen zum Gegenstand hatten, nach von dei Bene überlieferter eigener Einschätzung maßgeblich zur Reputation des Kunstzentrums Florenz bei, wofür Chigi mit mehr als zwanzig Sonetten geehrt wurde, die man ihm an die Tür heftete. Aus dieser Periode stammte die Bronzestatue des Hl. Petrus vor dem Altar von Santa Maria del Fiore.
Seine künstlerische Inspiration zog Chigi aus der Kraft der Gesichte, die ihm Gottvater, die Patriarchen, den Erlöser, die Heiligen, die Jungfrau und die Engel sowohl oben in den Wolken wie auch unten in seiner Werkstatt so klar und lebendig vor Augen führte, wie der Verstand sie nicht ersinnen kann. Getreu gab Chigi die Erscheinungen wieder, und kaum jemand tat es ihm, wie er meinte, in der Kunst gleich. Im Alter erlosch dem Meister jedoch die Glut der Gesichte. Von den Werken, die während dieser Schaffenskrise entstanden, berichtet dei Bene, der Chigi nun bei der Darstellung von Blumen und kleinen Tieren zur Hand ging, über eine von Engeln umgebene Muttergottes, einen im Tempel lehrenden Christus und eine von Engeln zum Himmel emporgetragene Maria Magdalena.
Chigi war von kleiner Statur und trug das ganze Jahr über ein Käppchen aus blauem Tuch mit Ohrklappen, das ihm das Aussehen eines Kapitäns eines maurischen Kaperschiffes verlieh statt dem eines Christenmenschen und Bürgers der Stadt Florenz. Sein Charakter wird als mürrisch, geizig, jähzornig und rachsüchtig geschildert; sein Spottname lautete Cattivanza, die Schlechtigkeit. Diese Züge trugen wohl auch zur Konfrontation mit dem im Dienste des Kardinallegaten Pandolfo de Nerli stehenden Sieneser Arzt Donato Salimbeni bei, der Chigi beschuldigte, seinen Neffen Cino nach einem Streit gemeuchelt zu haben (aus der Zeit dieses Streites sind wir über das als Auftragswerk im Entstehen begriffene Gemälde einer Hl. Agnes mit Buch und Lamm informiert). Trotzdem bot sich Salimbeni an, Chigi die Kraft der Gesichte wiederzuerwecken, nicht ohne ihn allerdings vor den Nebenwirkungen zu warnen.
Mittels speziell zubereiteten Räucherwerks und magischer Praktiken schritt man in der Nacht vom 28. auf den 29. Juni 1532 auf einem Hügel vor den Toren Florenz zur Tat. Unter dem Einfluß der Psychopharmaka erschienen Chigi Bilder, die in der Vision des Jüngsten Gerichtes im Tale Josaphat gipfelten, über dem sich am Himmel ein Feuerzeichen in der Farbe Drommetenrot abzeichnete: Das ist keine irdische Farbe, und meine Augen ertragen sie nicht, überliefert der Augenzeuge dei Bene die entsetzten Ausrufe des Künstlers. Nach der Theorie von Dr. Eduard Ritter von Gorski handelte es sich bei dem verwendeten Räucherwerk, einer wohl aus dem Orient stammenden Droge, die er mit den bekannten Berichten über die mittelalterlichen Assassinen und den Alten vom Berge in Beziehung setzt, um eine Substanz, die auf das Vorstellungsvermögen im Gehirn wirke und dadurch jedoch auch individuelle Ängste evoziere. Vermutungsweise äußerte Gorski die Ansicht, eine damit verbundene Veränderung der Netzhaut lasse das Auge darüberhinaus für ein erweitertes Wellenspektrum empfänglich werden. Möglicherweise handele es sich bei dem geschilderten Drommetenrot um eine optische Wahrnehmung des natürlicherweise nicht sichtbaren Infrarotbereiches.
Chigi verfiel infolge des erlittenen Rauschzustandes dem Wahnsinn. Er ist verloren, denn die Gesichte der Nacht haben Gewalt über ihn bekommen, wertete sein Widersacher Salimbeni den Vorfall. Nachdem der Meister zunächst in seine Werkstatt zurückgebracht worden war, verschwand er am 16. August 1532 unbemerkt aus Florenz. Drei Jahre später traf ihn sein einstiger Schüler auf dem Wege nach Rom in der Kapelle des Klosters der Seraphischen Brüder von den sieben Schmerzen an. Der geistig umnachtete Chigi war Mönch geworden und wurde von seinen Mitbrüdern Meister des Jüngsten Tages genannt, da er, wenngleich mit großer Vollkommenheit, nur noch dieses Thema malte und zornig wurde, wenn man ihn um die Ausführung anderer Sujets bat. Dei Bene sah das wohl freskierte Bild, an dem Chigi mit zitternden Händen, immerwährend im Gebet, in solcher Hast arbeitete, [...] als wären die Dämonen der Hölle noch immer hinter ihm her: mit äußerster Wahrheit waren der schwebende Felsen Gottes, das Tal Josaphat, der Chor der Erlösten, die vielgestaltigen Dämonen der Hölle und der feurige Pfuhl dargestellt; unter die Verdammten hatte der Meister sich selbst gemalt. Einige Wochen nach dei Benes Besuch starb Chigi in demselben Kloster. Ob das letztgenannte Werk oder eines der früheren des Künstlers erhalten ist, entzieht sich leider unserer Kenntnis.
Da dei Bene das Rezept der Droge, die als Movens der erstaunlichen Inspirationskraft des Chigischen Alterswerkes bezeichnet werden darf, mitteilte, erfreute sich sein auf den Rückseiten von Landkarten eines Atlanten handschriftlich verfaßter Bericht auch in späteren Zeiten einer traurigen Beachtung besonders unter nach kreativer Eingebung ringenden Künstlern. In diesem Zusammenhang muß auch die Affäre um den Tod des Wiener Hofschauspielers Eugen Bischoff im Herbst 1909 gesehen werden, in deren Verlauf die Aufzeichnung der Rezeptur allerdings vernichtet wurde. Der erhaltene Rest fand Eingang in die Aufzeichnungen des ebenfalls involvierten Freiherrn von Yosch, die man nach seinem Tode in der Schlacht von Limanova unter seinen Papieren fand. Diese wurden veröffentlicht, der Wahrheitsgehalt vom Herausgeber jedoch stark in Zweifel gezogen. [MB]
[Leo Perutz, Der Meister des Jüngsten Tages, 1923]

Kramer, Ferdinand * Frankfurt am Main, 22. Januar 1898; † ebd., 4. November 1985
Bedeutender deutscher Architekt und Designer des Funktionalismus. Weniger bekannt ist die Tatsache, daß sich Kramer Anfang der 50er Jahre ganz der Malerei zugewandt hatte, wie der mit dem Künstler befreundete Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno berichtet. Ergebnis dieser Umorientierung war die Erfindung einer neuen Gattung, der praktikablen Malerei. Diese ermöglichte es dem Rezipienten, einzelne gemalte Figuren wie etwa eine Kuh oder ein Nilpferd herauszuziehen und diese zu streicheln, wodurch er das weiche Fell bzw. die dicke Haut fühlen konnte. Ein weiteres Sujet bestand in Städtebildern, die aus architektonischen Aufrissen entwickelt waren, sowohl kubistisch wie infantilistisch aussahen und überdies an Cézanne erinnerten, rosa getönt wie in wirklicher Morgensonne. Der namhafte Journalist Benno Reifenberg veröffentlichte über die praktikable Malerei einen Aufsatz unter dem Titel Die Versöhnung mit dem Objekt. [MB]
[Theodor W. Adorno, Traumprotokolle, 2005]

Kraus, Urs aufgewachsen in Berlin in den 1940er Jahren; † möglicherweise in Kanada oder Japan, nach 1961
Aufgewachsen im Kriegs- und Nachkriegs-Berlin der vierziger Jahre, arbeitete Urs Kraus viele Jahre in München als technischer Zeichner. Zeitgleich versuchte er sich neben seiner beruflichen Tätigkeit in der Malerei. Er errang seinen künstlerischen Durchbruch (auf seinen Durchbruch in die Popularität wartet die unterrichtete Nachwelt bis heute), als er seiner japanischen Geliebten Kumiko in ihre Heimat nach Nara folgte und dort mit den Lehren des Zen-Buddhismus in Berührung kam. Waren seine Gemälde vorher vor allem durch die Präzision seines technischen Berufs geprägt, so gesellte sich in seiner japanischen Phase ein Duktus von metaphysischer Verwobenheit aller Objekte hinzu, der ein Gleichgewicht zwischen allen Teilen des Bildes anstrebt. Eines seiner Hauptwerke ist die Konstruktion des Fudschijama, welches eine komplexe, nahezu gigantische Baustelle mit allen dazugehörigen Fahrzeugen, Personen, Kränen, Hochöfen, Betonmischmaschinen und dem Ingenieur mit dem Plan in der Hand darstellt, welche allesamt dabei sind, den großen Vulkan zu erbauen. Eine ganze Serie widmet sich dem Portrait von Kumiko, wobei auch dort die künstlerische Entwicklung vom realitätsnahen Zeichner zum spirituell durchdrungenen Meister nachzuvollziehen ist. Während die ersten Portraits im gewissen Sinne wahrheitsgetreue Abbildungen sind, so ist das augenscheinlichste Merkmal der letzten Bilder dieser Serie die Alterslosigkeit, mit der er sein Modell wiedergab. Das Bild läßt nicht entscheiden, welches Alter sie hat. Es wird dem Betrachter überlassen, ein Alter zu wählen, in dem ihm diese Figur am zusprechendesten scheint. Wie in diesen, so versuchte er in vielen seiner Darstellungen, Beziehungen in der Zeit aufzulösen, wo sie existierten, bzw. herzustellen, wo sie noch nicht existierten.
Sein japanisches Intermezzo fand ein rasches Ende, als er einen jungen Mann kennenlernte, den er fast mit Besessenheit portraitierte und dem er nach seiner Abreise kurze Zeit später nach Vancouver folgte. In Vancouver verkaufte er einen Teil seiner Bilder, weshalb, neben den zurückgelassenen in Nara, dort die meisten seiner Werke zu finden sind. Er kehrte bald aus Vancouver nach Berlin zurück, wo er Ende August 1961 seiner Mutter zur Flucht aus Ost-Berlin verhalf. Kurze Zeit danach verliert sich seine Spur. Man vermutet, er sei nach Kanada oder Japan zurückgekehrt, ohne das dies belegt ist. [MRW]
[Michel Tournier, Les Météores (dt. Zwillingssterne), 1975]

N. N. tätig in Venedig im 16. Jahrhundert
Historienmaler der italienischen Renaissance. Seine Bilder zeichnen sich durch ihre prachtvolle Ausstattung in Kostümen und Szenerie aus, was von den Zeitgenossen jedoch oft als ablenkend von der Darstellung des heiligen Geschehens beklagt wurde. So zeigte etwa ein Bild des Letzten Abendmahls in den beachtlichen Maßen von 5 auf beinahe 13 Metern Mohren, Säufer und Clowns am Tisch des Herrn, einen Zwerg mit Papagei und verdächtig nach ketzerischen Deutschen aussehende Gestalten mit Hellebarden. Auf die nicht zuletzt von Seiten der Inquisition gestellten Fragen nach diesen keineswegs durch den Bericht der Evangelisten gedeckten Assistenzfiguren antwortete der Meister, er habe dies alles frei zu seinem eigenen Vergnügen erfunden. Seine selbstbewußt individualistische Devise: Es gibt keine Kunst ohne das Vergnügen gelte auch für heilige Bilder.
Eine Darstellung der Heiligen Anna selbdritt darf wenngleich nicht als sein berühmtestes, so aber nach eigener Einschätzung vielleicht bestes Bild bezeichnet werden. Der Meister bereicherte das nicht sehr amüsante Sujet unter dem Thron der Heiligen um eine Suppenschildkröte mit rollenden Augen, zierlichen Füßen und einem Panzer aus halb durchsichtigem Schildpatt. In Antizipation seiner Kritiker und ihrer Interpretationen begrub er sie jedoch nach ihrer Vollendung unter den Farbschichten des in Sandrosa, Schwarz und Malachit gemusterten Marmorbodens. Das Wissen um das unsichtbare Detail trug maßgeblich zur Wertschätzung des Malers für dieses seiner Werke bei. [MB]
[Hans Magnus Enzensberger, Der Untergang der Titanic, 1978]

Pernath, Athanasius * um 1830-40
Der Gemmenschneider, den eine unglückliche Jugendliebe zwischenzeitlich dem später von einer Amnesie verdeckten Wahnsinn verfallen gelassen hatte, lebte und arbeitete in der Hahnpaßgasse der Prager Judenstadt vor deren Abriß im Zuge der sogenannten Assanierung. Pernath, der durch seine Arbeit zu einem gewissen Wohlstand gelangte, besserte alte Schmuckstücke und andere Antiquitäten für zum Teil hochstehende Auftraggeber aus und schuf neue Gemmen und Kameen. Er zeichnete sich durch ein feines Gespür für die verwendeten Materialien aus; so grübelte er lange Zeit über eine Gemme aus Aventurinstein, bei der sich die vielen zerstreuten Flimmer niemals mit den Zügen des entworfenen Gesichtes decken wollten, bis er auf die Lösung kam, um – wie er sagte – „der Struktur der Masse gerecht zu werden.“ Besondere Probleme bereitete das um 1880 entstandene Portrait seiner Nachbarin Mirjam Hillel, ein Geschenk für die von ihm Geliebte. Zunächst erschien es dem Künstler unmöglich, den blauschwarzen Glanz ihrer Haare und Augen und die unirdische Schmalheit des Gesichts sinn- und visionsgemäß in eine Kamee zu bannen, „ohne sich in die stumpfsinnige Ähnlichkeitsmacherei der kanonischen ‚Kunst’richtung festzurennen.“ Die Aufgabe schien nur als Mosaik lösbar, bevor Pernath in seinem Mineralienvorrat einen bläulich leuchtenden Mondstein mit einer tiefschwarzen Matrix von Hornblende fand. Der Stein war ursprünglich für eine Darstellung des Osiris vorgesehen, doch fügten sich hier Licht und Konturen hervorragend dem Gesichtsschnitt Mirjams, der nach Pernaths Auffassung viel besser in die Zeit der sechsten ägyptischen Dynastie gepaßt hätte. Erst in dieser Schaffensperiode des Künstlers dienten ihm die Portraitsitzungen nur noch zum Vergleich, „ob man innerlich auch richtig gesehen hat“; die Übertragung des Bildes vom Wachsmodell in den Stein erschien dagegen fast nur noch als mechanische Arbeit.
Wohl aufgrund seiner vielfältigen inneren und äußeren Erlebnisse in dieser Zeit erwachten in Pernath innerhalb weniger Wochen künstlerische Fähigkeiten, die ihn weit über den Durchschnitt erhoben. Nach eigener Einschätzung hatten auch die ersten Künstler aller Zeiten niemals etwas besseres als die heute leider verschollene Kamee mit dem Portrait Mirjams geschaffen. Obwohl Pernath weitgehend unauffällig lebte und arbeitete, bestätigten auch andere zeitgenössische Fachleute, er sei einer der feinsten Gemmenschneider der Gegenwart, wenn nicht überhaupt einer der größten, die jemals gelebt haben.
Athanasius Pernath war von großer und schlanker Gestalt, hatte braunes Haar, trug einen kurzgeschnittenen melierten Spitzbart und ähnelte im Aussehen einem altfranzösischen Edelmann. Er starb möglicherweise gegen Ende des 19. Jahrhunderts beim Versuch, sich vom Dach eines brennenden Hauses abzuseilen, lebte vielleicht aber auch noch um 1910, mit Mirjam verheiratet, im Goldenen Gäßchen auf der Prager Burg. Leider darf jedoch der ontologische Status seiner Existenz nicht als über jeden Zweifel erhaben gelten. [MB]
[Gustav Meyrink, Der Golem, 1915]

Valle, Panizio del † Babakua, Südostafrika, wohl Frühjahr 1917
Weit über die Grenzen Spaniens bekannt geworden ist er durch seine zeitgenössischen Darstellungen der Eingeborenen von Babakua, einer südostafrikanischen Halbinsel, welche heute ebenso wie das Werk von Panizo del Valle in Unbekanntheit versunken ist. Dabei erfuhr er zu Lebzeiten den Ruf des letzten realistischen Malers, welcher ihm aber zu Unrecht verliehen wurde, hatte er doch Babakua in seiner Schaffensperiode nie besucht. Als Vorlagen gereichten ihm photographische Abbildungen, welche er mit einer gewissen künstlerischen Freiheit und Inspiration abmalte. Verglichen mit den tatsächlichen Lebensbedingungen in Babakua, spiegeln seine Bilder seine Naivität und Unbedarftheit wieder, die auf den ebenso unbedarften Betrachter faszinierend, auf den Kenner jedoch frappierend wirken mochten. Als Kenner seien hier all jene Menschen zitiert, welche Babakua besucht haben oder dort wohnen. Als del Valles Bild Babakuanerin mit Lumpenpuppe, eine Darstellung eines eingeborenen Mädchen mit einer Puppe, Babakua erreichte, erntete es nur Spott und Gelächter, nicht zuletzt von dem Mädchen Dien selbst, deren Foto als Vorlage diente, ob der absolut unrealistischen und verklärten Darstellung.
Mittleren Alters im Frühjahr 1917 führte ihn sein Weg doch nach Babakua - eine Reise, von der er nicht wiederkehren sollte. Spötter argwöhnen, der Widerspruch zwischen seiner vorgestellten Welt und der Realität in Babakua habe ihn verrückt werden lassen. Es wurde von Augenzeugen berichtet, daß er das letzte Mal, als sie ihn sahen, nur mit einem Schlafanzug bekleidet im Urwald verschwand. Und eben jene Augenzeugen vertreten die Meinung, daß sich niemand ungestraft nur mit einem Schlafanzug bekleidet in den gefährlichen Urwald von Babakua wagt. [MRW]
[Enrique Vila-Matas, (dt. Man sagt mir, ich soll sagen, wer ich bin), 1991]

Vogel des Langmütigen, Der tätig in Paris vor dem 1. Weltkrieg
Französischer Künstler der Pariser Bohème vom Montmartre, dessen bürgerlicher Name unbekannt geblieben ist. Über sein Schaffen ist nur wenig bekannt, erwähnt wird etwa ein Bild, [...] auf dem in eisigem Nebel zwei Frauen Vergangenem nachhingen. Obwohl sich der Vogel des Langmütigen hauptsächlich als Maler betätigte, stammt sein Hauptwerk aus dem Bereich der Bildhauerei. Gemeinsam mit dessen früherer Geliebten Tristouse Ballerinette beschloß er, dem ermordeten berühmten Dichter Croniamantal, mit dem er befreundet gewesen war, ein Denkmal zu errichten. Aufgrund der den Dichtern gegenüber feindlich eingestellten Regierung erfolgte seine Aufstellung im Geheimen im Wald von Meudon. Die klassischen Kunstmaterialien Marmor oder Bronze erschienen dem Vogel des Langmütigen zu altbacken, wie er erklärte: [...] ich muß ihm ein tiefsinniges Standbild aus Nichts aushauen, wie die Poesie und wie der Ruhm. Der Künstler hob auf einer Lichtung ein Loch mit einem Durchmesser von etwa einem halben und einer Tiefe von zwei Metern aus und modellierte das Innere nach der Gestalt des verstorbenen Dichters. Das Loch wurde mit einer acht Zentimeter dicken Schicht Zement armiert, [...] so daß die Hohlform den Umriß von Croniamantal hatte, das Loch voll von seinem Geist war. Anschließend verfüllte der Künstler das Loch mit Erde und pflanzte einen Poeten-Lorbeerbaum darauf. Dieses Monument, das mit allen Denkmalskonventionen des 19. Jahrhunderts brach, darf als wegweisend für die Kunst des Surrealismus gewertet werden. [MB]
[Guillaume Apollinaire, Le Poète assassiné (dt. Der gemordete Dichter), 1916]

[MB]=Marcus Becker, [MRW]=Marc-Robin Wendt