Jean Mabillon - Biographische Notizen

geboren 23.11.1632 Saint-Pierremont, Champagne
gestorben 27.12.1707 Saint-Germain-des-Prés

Schon in seiner Kindheit von seinem Onkel unterrichtet und unterstützt, ging Mabillon, ebenfalls mit dessen Hilfe, im Alter von 12 Jahren an das Collège-des-Bons-Enfants der Universität in Reims, wo er für sechs Jahre des Lernens verweilte, gefolgt von drei weiteren Jahren des Studiums der Philosophie und Theologie an derselben Universität.

Seiner Berufung folgend trat er im August 1653 in das Benediktinerkloster St-Remi ein, wo er sein Noviziat absolvierte. Nach mehreren Zwischenstationen in verschiedenen Klöstern erreichte er 1663 das Klosters St-Denis, wurde dort mit der Aufgabe des Thesaurars betraut und so qua Amt mit dem reichhaltigen Archiv des Klosters vertraut.

Im folgenden Jahr aber bereits ins Kloster St. Germain gerufen, dem intellektuellen und wissenschaftlichen Zentrum der Kongregation der Mauriner, wurde er in das Vorhaben des dortigen Bibliotheksvorstehers Luc d'Achery eingebunden und widmete sich von nun an den Ursprüngen und der Geschichte des Benediktinerordens.

Von hier aus entwickelte er eine intensive Editions- und Sammlertätigkeit, die bis zu seinem Tode im Jahre 1707 durch zahlreiche Archivreisen hauptsächlich in Frankreich und Italien unterstützt wurde.

De re diplomatica - Entstehungsgeschichte und Editionen

Erste Auflage (1681)

Im Jahre 1675 veröffentliche der Jesuit Daniel Papebroch zusammen mit Gotfried Henschen den Aprilband der Acta sanctorum, einer Textausgabe von Heiligenviten, die dem Jahresablauf folgt, und darin die praktisch orientierte, aber auf allgemeine Grundsätze zielende Auseinandersetzung "Propylaeum antiquarium circa veri et falsi discrimen in vetustis membranis". Papebroch erwägte darin Kriterien und Ansätze, wie Urkunden auf Echtheit zu prüfen seien, kam aber aufgrund des Mangels an echten, vorliegenden Urkunden teils zu falschen Schlüssen.

Insbesondere schloß er sich der schon vorher existierenden Hyperkritik an, dass die meisten Merowingerurkunden, insbesondere jene aus dem Archiv des Klosters St-Denis, gefälscht seien.

Die Mauriner sahen dies als von einem Jesuiten vorgebrachte Herausforderung, nun ihrerseits die Echtheit dieser Urkunden nachzuweisen, da diese eng mit der Geschichte des Ordens verbunden waren. Sie betrauten Mabillon mit dieser Aufgabe, der sechs Jahre später mit dem Buch De re diplomatica libri VI auf die Herausforderung antwortete. Neben einer umfangreichen, systematisch-theoretischen Auseinandersetzung enthält dieses Werk, im Gegensatz zu dem Papebrochs, zahlreiche Beispiele von Urkunden, teils als Faksimile-Kupferstich von Pierre Giffart, die die Grundlage seiner Erkenntnisse bildeten.

Supplementum (1704)

Während sich Papebroch von der Argumentation Mabillons überzeugen ließ, brachte im Jahr 1703 eine Gruppe von Jesuiten des Collège Louis-le-Grand unter Federführung von P. Germon einen Versuch der Widerlegung der De re diplomatica heraus. Mabillon begegnete dieser Provokation im folgenden Jahr mit einem Supplementum, in welchem er seine frühere Argumentation über merowingische Urkunden vertiefte, insbesondere die frühmittelalterliche Chronologie und Genealogie präzisierte, ein neues Kapitel über Instrumente, Schriftstil und Schreibmaterialien ergänzte, und zur Fundierung seiner Beurteilung zahlreiche Textbeispiele und Faksimiles von Urkunden anfügte.

Unter ähnlichen Umständen wie schon das Hauptwerk entstand das Supplementum als Antwort auf die vorgebrachten Argumente, die sich auf die Haltbarkeit von Papyrus und Pergament beziehen bzw. die allgemeine Frage aufwerfen, wie sich Urkundentexte aus der Merowingerzeit glaubhaft bis in die Neuzeit erhalten konnten.

Zweite Auflage & Supplementum (1709)

Mabillon arbeitete bereits an einer zweiten Auflage von De re diplomatica, als er im Jahre 1707 starb. Sein Assistent Thierry Ruinart setzte die Herausgabe mit Hilfe der Notizen Mabillons fort und brachte so eine überarbeitete Auflage zwei Jahre nach dem Tode Mabillons heraus. Inhaltlich flossen die Kritiken und Anregungen seit Erscheinen der ersten Ausgabe hinein, so dass dieses Werk Mabillons Erkenntnisstand zum Zeitpunkt seines Todes entspricht. Diese Ausgabe enthält neben dem Hauptwerk das 1704 erschienene Supplementum und ein ausführliches Vorwort von Ruinart.

Dritte Auflage (1789)

Einen Neudruck brachte im Jahre 1789 der Philologe Giovanni Adimari in Neapel heraus. Diese Ausgabe versucht die zweite Auflage getreu wiederzugeben und ergänzt diese um Fußnoten der aktuellen Diskussion, verändert dabei aber die Seitennummerierung. Ein Nachteil der Gestaltung dieser Ausgabe ist aus heutiger Sicht, dass sich bei aller Sorgfalt Setzfehler eingeschlichen haben und die Bildtafeln teils ergänzt, teils nicht vollständig übernommen wurden.

Aufbau des Werkes

1. Buch

Mabillon beginnt seine Überlegungen mit der Unterscheidung von Urkundenarten nach Aufbau und Art der Überlieferung. An einzelnen Beispielen setzt er sich mit den Grundsätzen Papebrochs auseinander, was im 3. Buch weiter vertieft wird. Es folgen eine Aufstellung verschiedener Beschreibstoffe und Betrachtungen zu deren Haltbarkeit. Im letzten Kapitel behandelt er Schreibstile, Schriftarten und deren Entstehung und Verbreitung - dieses Kapitel bildet in Verbindung mit dem 5. Buch den Ausgangspunkt und die Grundlage für die Entwicklung der Paläographie.

2. Buch

Der inhaltlich umfangreichste Teil behandelt die Merkmale von Urkunden im einzelnen. Auf Überlegungen zur Orthographie folgen Darstellungen über den Gebrauch von Formeln und Titulaturen innerhalb der Urkunden, über die Arbeit in den Kanzleien, die Arbeitsteilung der Kanzleibeamten, über den Gebrauch und die Verbreitung von Siegeln, über die Nennung von Zeugen und über die Art der Unterzeichnung von Urkunden.

Die letzten sechs Kapitel widmen sich der Chronologie und der Datierung von Urkunden.

3. Buch

Im dritten Buch setzt sich Mabillon direkt mit den Argumenten seiner Vorgänger auseinander, insbesondere Papebrochs und des deutschen Rechtsgelehrten Conrings, der im Zusammenhang des Urkundenstreits des Klosters zu Lindau erstmals systematische Überlegungen zur Urkundenbewertung und zum Urkundenvergleich niederschrieb. Mabillon untersucht teils die selben Urkunden wie Papebroch und Conring allerdings mit erweiterten Vergleichsmaterial und neuen Ergebnissen.

Dieses Buch endet im 6. Kapitel mit einer Liste von allgemeinen Regeln, die zur Beurteilung von Urkunden beachtet werden sollten.

4. Buch

Das vierte Buch enthält eine alphabetische Aufstellung fränkischer Pfalzen und Residenzen. Neben einer kurzen Einordnung über Gründung und Geschichte bis in die Neuzeit wird das Erscheinen der Orte in historischen Quellen dokumentiert. Dabei werden sowohl literarische Quellen als auch Urkunden berücksichtigt.

Besondere Erwähnung finden die Verbindungen der fränkischen Herrscher zu den jeweiligen Residenzen, teilweise bis zu Details ihrer Aufenthaltszeiten und dortigen Urkundenproduktion.

5. Buch

Nach den theoretischen Ausführungen widmet sich das 5. Buch einer Reihe von Beispielen, die in einer Gegenüberstellung von Kommentar und Kupferstich-Faksimile erläutert werden. Mabillon vergleicht vor allem Schriftproben verschiedener Epochen und Regionen, geht dabei auf Details einzelner Urkundenteile ein, z.B. die Beschreibung von Herrschermonogrammen (S. 428f.) oder die Verwendung tironischer Noten (S. 456 f.). Auch klassifiziert er Schrifttypen und Alphabete und illustriert dies mit den entsprechenden graphischen Beispielen.

6. Buch

Im abschließenden Buch werden Urkundenbeispiele als Textfassung zusammengefasst, welche in den vorherigen Büchern erwähnt oder zur Beweisführung verwendet wurden. Häufig folgt dem eigentlichen Urkundentext noch ein kurzer Kommentar Mabillons, in dem er Auffälligkeiten und Querverbindungen notiert.

Wirkungsgeschichte

Mabillons De re diplomatica wird heute als Ausganspunkt der Entwicklung von Diplomatik und Paläographie gesehen. Die Methode, Urteile über die Echtheit von Urkunden auf Vergleiche mit anderen Urkunden zu stützen, hat Mabillon teils von Vorgängern wie z.B. Papebroch oder Conring übernommen, allerdings war er der erste, der diese Methode systematisierte und mit einer umfangreichen Quellensammlung kombinierte. Mabillons Verdienst war es zu erkennen, dass Papebrochs vergleichender Ansatz nur mit einer möglichst erschöpfenden Materialkenntnis zu fruchtbaren Ergebnissen führt.

So wurde sein Werk schon bald nach dessen Erscheinen viel beachtet, da es den vielfachen Bella diplomatica die Willkür und Parteilichkeit der gegenüberstehenden Fronten nahm und eine systematische Herangehensweise bot.

Der Weg zur Wissenschaftlichkeit war durch Mabillon vorbereitet, indessen aber noch nicht beschritten. Es bedurfte zumindest in Frankreich noch eines Jahrhunderts und der radikalen politischen Umwälzung der französischen Revolution, um das juristische Interesse an mittelalterlichen Urkunden versiegen zu lassen und diese Urkunden als eine Quelle der Geschichtsschreibung aufzufassen. Das 18. Jahrhundert war noch geprägt von juristischen oder polemischen Auseinandersetzungen, bei denen die Urkunden als Beweismittel herangezogen wurden.

Insbesondere die Anfechtungen des Urkundenfundus von St-Denis führten dazu, dass das geistige Erbe Mabillons in der Kongregation der Mauriner lebendig blieb und in den folgenden Jahrzehnten seine Fortsetzung fand in den Arbeiten seines ehemaligen Assistenten Thierry Ruinart und in dem weit umfangreicheren Werk Nouveau traité de diplomatique (6.Bd. 1750-1765) von den Benediktinern Charles-François Toustain und René-Prosper Tassin; ihr Werk ist als unmittelbare Weiterführung der Arbeit Mabillons aufzufassen, hält es sich doch an die Prinzipien Mabillons, erweitert aber die Materialgrundlage ungemein (z.B. um die Behandlung von Papsturkunden, die bei Mabillon kaum Beachtung fanden).

Die weitere Entwicklung der Diplomatik ist durch Spezialuntersuchung und Diversifikation gekennzeichnet - das, was Mabillon noch als Gesamtschau zusammenstellte, wurde in Einzeldarstellungen vertieft und erweitert. Die Paläographie und Sphragistik etablieren sich Anfang des 19. Jahrhunderts als eigenständige Disziplinen, die Diplomatik emanzipierte sich zur selben Zeit von den Rechtswissenschaften, in deren Zusammenhang sie bis dahin hauptsächlich gelehrt und beachtet wurde.

Die enorme Editionstätigkeit des 19. Jahrhunderts und das Aufkommen von umfassenden diplomatischen Lehrbüchern (z.B. Giry oder Bresslau) am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert führten dazu, dass Mabillons De re diplomatica heute kaum mehr konsultiert wird.

Seine Erkenntnisse und Prinzipien finden ihren Widerhall in den neueren Werken, ob erweitert oder angefochten. Der Griff zum inzwischen über 300 Jahre alten Buch folgt heute meist aus wissenschaftshistorischem Interesse. Aber für den gegenwärtigen Diplomatiker bleibt Mabillons Werk ein Fundus, spiegelt es nicht nur den Wissenshorizont seiner Zeit wider, sondern auch die Materiallage, die sich durch Revolutionen, Kriege und den Wandel der Zeit inzwischen gänzlich geändert hat. Den oft genannten, aber wohl nur selten benutzten „Klassiker“ der Diplomatik erstmals außerhalb der Raritäten-Kabinette großer Bibliotheken in seiner kompletten Gestalt zugänglich zu machen, ist die Absicht des vorliegenden Projekts.


Seite zuletzt geändert am 14.08.2013