Marc-Robin Wendt

Eröffnungskonzerte als funktionelle Musik


Inhalt

1.Einleitung
2.Funktionelle Musik
2.1.Zur Theorie der funktionellen Musik
2.1.1.Ebenen der Funktion
2.1.2.Dimensionen der Musik
2.2.Eröffnungskonzerte und deren Funktion
3.Einzelne Aspekte an Musikwerken nachvollzogen
3.1.Richard Wagner - Großer Festmarsch WWV 110
3.2.Richard Strauß - Festliches Präludium op.61
4.Ausblick
5.Kleiner Index von Eröffnungskonzerten
6.Literaturverzeichnis


Eröffnungskonzerte als funktionelle Musik

1. Einleitung

Eine eigene Gattung stellen Eröffnungskonzerte nicht dar. Dazu sind die Werke zu verschieden; so wie es die Anlässe sind, zu denen sie komponiert wurden. Aber dennoch gibt es genug Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, auf die es wert ist einzugehen. Diese Arbeit versucht diesen Gemeinsamkeiten aus dem Blickwinkel der funktionellen Musik näher zu kommen.
Im ersten Teil wird der Begriff der funktionellen Musik und der des Eröffnungskonzertes umrissen, welcher im zweiten Teil auf zwei Beispiele angewendet wird. Da es sich bei Eröffnungskonzerten meist um sehr unbedeutende Arbeiten bekannter Komponisten handelt, ist denkbar wenig über diese Werke erarbeitet und veröffentlicht worden. So wird im zweiten Teil nicht das ganze Wesen funktioneller Musik an einem Beispiel nachvollzogen werden können, sondern können nur einzelne Aspekte herausgegriffen und an den Beispielen betrachtet werden.
Eröffnungen von Gebäuden, Ausstellungen, Olympiaden etc. durch eine eigens dafür angefertigte Komposition zu bereichern, hat eine lange Tradition. Diese Tradition ist weder an eine Epoche noch regional gebunden. Ursprünglich waren diese Kompositionen sicher mit der Zeremonie eng verknüpft. So schrieb W.DUFAY Motetten für die Domweihen in Patras ("Apostolo glorioso" 1426) und Florenz ("Nuper rosarum flores" 1436). Mit der Entstehung großer weltlicher Bauwerke in der Neuzeit löst sich, im gleichen Maß wie in der übrigen musikalischen Entwicklung, die gewidmete Musik vom Ritual ab und bekommt eigenständige Formen. Die Eigenständigkeit beschränkt sich aber immer auf das Vermögen des Komponisten und den Entwicklungsstand in der Musikgeschichte.
Zur Eröffnung der Mailänder Scala 1778 wurde A.SALIERI mit dem Schreiben der Oper "Europa riconosciuta" beauftragt. Neben CH.W.GLUCK war er derjenige, der die Opernwelt zu dieser Zeit intensiv beeinflußt hat. Es war selbstverständlich, daß er mit der Eröffnungsoper beauftragt wurde (nachdem CH.W.GLUCK abgelehnt hatte). Hieran zeigt sich, daß ein Eröffnungskonzert ein Aushängeschild für die Größe und Tragweite des Anlasses ist. Und natürlich für die finanzielle Kraft des Auftraggebers. Durch die Ausstrahlung eines bekannten Komponisten die Bedeutung einer Eröffnung zu unterstreichen, ist unter anderem ein Ziel von Eröffnungskonzerten. So verstand sich, daß für die Eröffnung des Wiener Musikvereinsaales (1870) die Gebrüder STRAUß mit neuen, diesem Anlaß gewidmeten Stücken auftraten.
Hinter dieser Tradition stand immer eine Kostenfrage, da kaum ein Komponist solche Werke ohne Auftrag bearbeitete und in der Regel gebührend Honorar verlangte. Es wundert daher kaum, daß diese Tradition heute beinahe eingeschlafen ist. Doch diese Behauptung ist reine Spekulation. Eine umfassende Zusammenstellung von Eröffnungskonzerten steht noch aus. Das liegt wohl hauptsächlich daran, daß das Finden dieser Werke eine ausführliche Recherche erfordert. Man kann einerseits die Eröffnung von Bauwerken, Ausstellungen etc. nachvollziehen und so mehr zufällig auf Musikwerke stoßen. Dieses gibt die Tagespresse oder einschlägige Sekundärliteratur zum jeweiligen Anlaß her. Andererseits lohnt sich das Durchsuchen von Werkverzeichnissen einzelner Komponisten. Bei bekannten Komponisten ist das sehr aufwendig aufgrund der Werkfülle, aber dafür schon relativ gut aufgearbeitet. Weniger bekannte Komponisten müssen erst einmal selbst gefunden werden. Dann stellt sich die Frage, inwiefern zu solchen Komponisten überhaupt Werkverzeichnisse existieren. Gerade in Zeiten, in denen die Tagespresse noch nicht so präsent und ausführlich war, ist eine gründliche Recherche fast unmöglich. Am Schluß dieser Arbeit findet sich eine kleine Liste mit Eröffnungskonzerten, die aber alles andere als umfassend ist.
So wird hier hauptsächlich versucht, theoretische Herangehensweisen und Werkzeuge zu finden, mit denen Eröffnungskonzerte charakterisiert werden können. Eine Überprüfung dieser Aspekte an einer ausreichenden Anzahl von musikhistorischen Beispielen bleibt außen vor. Dennoch geben die wenigen gefundenen Konzerte genügend Anhaltspunkte für eine Auseinandersetzung mit diesem Thema.

2. Funktionelle Musik

2.1. Zur Theorie der funktionellen Musik

In Anlehnung an eine Argumentation CARL DAHLHAUS' über den Begriff der Trivialmusik ist der Terminus 'funktionelle Musik' ein "Phantom, ein Begriffsgespenst"[4:131]. Unter diesem Begriff jegliche Musik zusammenzufassen, die eine Funktion besitzt, heißt, ein Allwort zu schaffen, das sämtliche Musik erfaßt. Selbst die Einschränkung auf Musik, die nicht "konzertfähig" ist, bringt immer noch eine unübersehbare, heterogene Masse von musikalischen Richtungen unter einen Deckmantel, der eine charakterisierende, klassifizierende Beschreibung von Musik nicht zuläßt.
Eine erste mögliche Charakterisierung funktioneller Musik ist die Abgrenzung zur sogenannten autonomen Musik. Das entscheidende Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen beiden Musikrichtungen ist die Absicht, mit der die Musik komponiert wurde. Funktionelle Musik soll einen Zweck erfüllen und wurde speziell dafür komponiert. Autonome Musik ist vorerst ohne die Absicht einer bestimmten Anwendung erschaffen und so als bloßes Kunstwerk zu verstehen (l'art pour l'art). Eine solche Polarisation läßt sich aber erst seit der Zeit der Aufklärung in Europa anwenden und auch danach nur für ausgewählte Werke durchhalten. Vor der Aufklärung gab es fast keine Musik ohne Zweck und Auftrag, also auch nicht als Kunstwerk in dem Sinne, wie wir es heute verstehen. Doch auch die meisten musikalischen Werke, die nach der Aufklärung entstanden sind, befinden sich in einer Grauzone zwischen den Polen und lassen sich nur kontextabhängig oder gar nicht zuordnen. So gibt dieser Versuch der Klassifizierung von Musik höchstens einen Anhaltspunkt, eine Orientierung, wie ein Kunstwerk einzuordnen und zu werten sei. Eine Theorie darüber aufzubauen, so wie es EGGEBRECHT [5] teilweise versucht, scheint verwegen, da sie an vielen Stellen relativiert werden muß, da es zu viele Ausnahmen gibt, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen. Aber das stellt Eggebrecht schon selbst fest: "Die Polarisation in den Begriffen funktionale und autonome Musik, die die Wirklichkeit (Musik in ihren Intentionen und Eigenschaften) ordnet, obgleich sie sie in ihrer Totalität nicht erfaßt, ist einzuschränken: zum einen im Blick auf die historisch einzuschränkende Geltung dieser Polarität, zum anderen durch die Konstatierung von Zwischenbereichen, zum dritten seitens der Möglichkeiten des Ent- und Umfunktionalisierens und vor allem seitens der Interdependenz der Funktionsebenen." [5:8] Eine solche absolute Polarisation scheitert an der Anwendung auf die Musikgeschichte und die wirkliche musikalische Praxis.
Die Unterscheidung in funktionelle und autonome Musik besitzt weniger eine musiktheoretische Relevanz als eine gesellschaftliche und soziologische. So bildet diese Unterscheidung gerade in der Gegenwart ein gesellschaftliches Werturteil. Autonome Musik wird dabei als geistig hochstehend, besonders wertvoll für die Gesellschaft angesehen. Dagegen wird funktionelle Musik als Alltagsgegenstand behandelt, den man nicht zum Bildungstand und zum geistigen Niveau zählen möchte. Ein Musikwerk nicht mehr als funktionell sondern als autonom zu begreifen, heißt, es gesellschaftlich aufzuwerten. Es wird zur Kunst erhoben und in die Mechanismen von Reproduktion und Rezeption von Kunst eingefügt (öffentliche Aufführung, Verkauf auf Tonträger etc.). Zu solchen Aufwertungen kam es zum Beispiel mit der barocken Tafelmusik. Ursprünglich als Hintergrundmusik von gesellschaftlichen Essen gedacht, bildet sie heute ein Kernbestandteil unseres barocken Kunstverständnisses. In kürzeren historischen Dimensionen gedacht, kann Filmmusik inzwischen sowohl als funktionell als auch autonom betrachtet werden. So besitzt die Musik von MICHAEL NYMAN inzwischen fast "Kultstatus" und wird wohl häufiger ohne den Film rezipiert als mit ihm. Oder: CHAPLINs Filmmusik zu seinen eigenen Filmen hört man derzeit fast ausschließlich vom Film losgelöst. Derartige musikalische Werke sind somit ein Bestandteil unserer Kultur geworden, der es wert ist, zu überdauern.
Die Polarisation in autonome und funktionelle Musik ist musikhistorisch relevant. Bei Analyse und Wertung von Musikwerken sollte stets das vorherrschende Meinungsbild der Zeit berücksichtigt werden, in der das Werk geschaffen wurde. Für eine moderne Beschreibung der Funktion von Musik reicht dieses Modell aber nicht mehr aus. Es muß nach neuen, notwendigerweise komplexeren Beschreibungsmöglichkeiten gesucht werden, die das gesamte Spektrum der zeitgenössischen sowie vergangenen Musik erfassen und nicht nur auf die abendländische Musikkultur beschränkt bleiben.
Um dem Begriff "funktionelle Musik" von musiktheoretischer Seite näher zu kommen , bedarf es einer genaueren Klärung seiner Bestandteile: Funktion und Musik. Sowohl Funktion als auch Musik kann nicht als einheitliche Bezeichnung für einen kompakten Inhalt aufgefaßt werden. Beide Begriffe können in Komponenten zerlegt werden, die in ihrer Kombination entscheiden lassen, in welche Richtung Musik funktioniert bzw. fungiert.

2.1.1. Ebenen der Funktion

EGGEBRECHT beschreibt drei Ebenen von Funktion [5:2]:
  1. es fungiert in der Sache,
  2. die Sache fungiert intentional,
  3. es fungiert das intendierte Fungieren oder Nichtfungieren der Sache.
REINECKE ergänzt noch zwei weitere Bedeutungen speziell für das Attribut "funktionell"[8:22]:
  1. wertender Aspekt im Hinblick auf einen tatsächlichen Gebrauchswert,
  2. propagandistischer Aspekt im Hinblick auf einen vermeintlichen Gebrauchswert.
Erläuterungen:

zu 1. Das Kunstwerk trägt die Eigenschaft, eine Funktion ausüben zu können, in sich; in seinem Aufbau, seiner Form oder in bestimmten Bestandteilen. Die Funktion ist im gewissen Grade kontextunabhängig, d.h. man erkennt die Funktion bzw. es fungiert ohne die Voraussetzung einer bestimmten Umgebung (Tageszeit, bestimmter Ort etc.). In der Musik ist diese Art von Funktion stark eingeschränkt. Das Verständnis von Musik hängt sehr von Konventionen ab, von musikalischen Erfahrungen und der Erziehung des Hörers. Darüber hinaus erwartet der Hörer in gewissen Umgebungen bestimmte Musik und genauso andere Musikrichtungen/-stile nicht. Manche Formen in der Musik fungieren zum Beispiel nur in bestimmten Regionen der Erde. Das Erkennen einer Funktion aus dem Musikwerk heraus kann in der Regel nur in dem Kulturkreis stattfinden, aus dem die Musik geschaffen wurde. Den Dreivierteltakt als typischen Tanzrhythmus anzusehen, ist eine spezifisch europäische Eigenschaft. Einen Zweivierteltakt als Marschmusik zu erkennen, geht über die Grenzen von Europa hinaus. Das Singen buddhistister Mantras (kurze Gebetssätze) durch tibetische Mönche versetzt einen Europäer kaum in die meditative Stimmung, wie es in den tibetischen Klostern geschieht. Ein Europäer wird eher mit Verwunderung und Unverständnis reagieren, da er den Kontext der Mantras und auch deren Wortsinn nicht versteht.
Hier kommt einer neuer Aspekt von Funktion in der Sache hinzu: das gesungene Wort. Setzt man voraus, daß der gesungene Text verstanden werden kann, ist der Text der eigentliche Funktionsträger, indem er eine Botschaft übermittelt. Die Musik gilt nur als Vehikel oder Verstärker. Durch Musik kann der Text verschieden akzentuiert werden. Vor allem können durch die Musik die Akzente jederzeit reproduziert werden. Während beim Lesen jeder Leser den Text nach seinem eigenen Gutdünken betonen kann, ist durch Melodie und Rhythmus o.ä. eine Betonungsstruktur für den Text vorgegeben, die nur durch Neukomposition der Musik verändert werden kann. Die Musik dient zur Fixierung einer vorgegebenen Form von Inhaltsübermittlung. Im eigentlichen Sinne fungiert der Text. Aber betrachtet man ein Lied, eine Mottete oder Messe als musikalisches Kunstwerk, so ist der Text natürlicher Bestandteil dieses Werkes und fungiert so in der Sache.

zu 2. Es gibt mindestens zwei Arten von Intention, aus denen sich Funktionen ableiten können. Die erste gibt der Musikschaffende vor. Musik wird zu einem bestimmten Zweck komponiert bzw. aufgeführt. Dabei wird dem Hörer der Sinn dieser Musik bzw. der Aufführung übermittelt. So entsteht beim Hörer ein Rahmen, in dem er diese Musik rezipiert und verarbeitet. Ein Benefizkonzert gilt hauptsächlich dem Sammeln von Geld für einen bestimmten Zweck. Der Hörer besucht dieses Konzert sowohl, um zu spenden, als auch die Musik zu hören. Dabei stört es ihn aber weniger, wenn teilweise Musikrichtungen anklingen, die ihm nicht gefallen. Die Intention der Hilfe dominiert den Musikgeschmack. Peter Eben beschreibt in seiner Komposition "Okna" für Orgel und Trompete die Fenster von Marc Chagall in der Synagoge des Hadassah-Heilkunde-Zentrums in Jerusalem. Eine Aufführung, ohne den Titel bekanntzugeben, ließe das Werk in eine völlig andere, unkontrollierte Richtung wirken (was sicherlich auch seinen Reiz hätte). Die Intention des Komponisten ist entscheidend für die Wirkung der Komposition im Sinne des Komponisten.
Eine zweite Intention, die in ein Musikwerk investiert werden kann, ist die des Hörers. Die Einstellung des Hörers gegenüber einem musikalischen Werk bzw. einer Aufführung ist entscheidend für die Wirkung auf ihn. Wenn jemand keinerlei Beziehung zu Jazz hat, so wird ein Jazzkonzert keinen positiven sondern eher negativen Eindruck hervorrufen. In diesem Fall wirkt die Musik ebenfalls auf ihn. Postulat: Sobald ein Rezipient eine Intention gegenüber einem Musikwerk bzw. einer Aufführung (allg. Wiedergabe oder Reproduktion von Musik) hat, wirkt dies auf ihn. Dabei kann die Intention des Hörers schon vor der Aufführung bestehen oder sich während ihr entwickeln oder ändern. Die Art der Wirkung hängt von der Intention des Rezipienten ab und kann von Person zu Person völlig verschieden sein. Die Frage bleibt offen, ob Musik beim Hörer immer eine Intention hervorruft, egal ob sie bewußt oder unbewußt wahrgenommen wird bzw. ob es etwas wie unbewußte Intention überhaupt geben kann.

zu 3. "Jedes Kunstwerk ist - auch in der Negation - auf die Gesellschaft gerichtet und gewinnt, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, ob bewußt oder unbewußt, eine gesellschaftliche Aussage"[11:142]. Diese Ansicht vorausgesetzt, gibt es kein Nicht-Fungieren in der Musik. Im großen Kontext der Gesellschaft wirkt sich jede Art von Musik aus. Schon allein durch ihre Existenz erlangt sie Funktion in dem Sinn, daß sich Teile der Gesellschaft, sprich Personen, für das Erschaffen dieser Musik bemüht haben und dadurch in Wechselbeziehung mit der Musik getreten sind. "Unmittelbar hat Musik keine gesellschaftlich oder politisch relevante Funktion, doch mittelbar, durch assoziative Klischees, können solche Inhalte in die Musik einfließen"[11:143]. Die Musik bleibt ein Spiegel der Gesellschaft oder von Teilen der Gesellschaft. Die dritte Ebene von Funktion erfaßt die gesellschaftliche Funktion von Musik überhaupt.

zu 4. Eine Musik als funktionell zu bezeichnen, heißt, ihr irgend einen Zweck zuordnen zu können. Sie läßt sich benutzen und durch diese Benutzung wird ein Ziel erreicht. Ausgegangen wird von einem Zweck, einem Gebrauch, zu dem Musik verwendet werden soll. Gegenüber diesem Gebrauch kann man den Gebrauchswert verschiedener Musik feststellen; zwar nicht absolut als Zahlenangabe, aber relational als Vergleich zwischen einzelnen Musikwerken. Eine Musik ist funktionell, wenn sie einen hohen Gebrauchswert gegenüber einem bestimmten Zweck hat. Allerdings kann nicht zu jedem Zweck eine funktionelle Musik gefunden werden. Es gibt Musik, die geeigneter ist als andere für einen Zweck. Diese muß dennoch nicht funktionell sein, weil auch sie eigentlich nicht paßt. Der Gebrauchswert wird intuitiv bestimmt, ist also eine subjektive Größe, die je nach Beurteilendem variiert.

zu 5. Haupsächlich als Verkaufsstrategie induziert das Attribut "funktionell" die Zweckmäßigkeit des Artikels. Es entsteht der Glaube, mit der Musik einem Ziel näher zu kommen, ohne von der tatsächlichen Wirkung der Musik zu wissen. So geschieht es derzeit mit weiten Teilen der Arbeitsmusik. Da die statistischen Untersuchungsmethoden zur Wirkung von Musik bei der Arbeit sehr komplex sind und kaum alle äußeren Einflüsse konstant gehalten werden können, ist die Wirkungsweise sehr umstritten. Die Bezeichnung als funktionelle Musik bei der Arbeit suggeriert aber die mögliche Produktionssteigerung. Durch die Benutztung des Attributs "funktionell" wird hier eine Funktion der vorherigen Ebenen unterstellt, ohne den Nachweis dafür antreten zu wollen.
Die Bestimmung eines tatsächlichen oder vermeintlichen Gebrauchswertes soll im weiteren keine Rolle mehr spielen.

Diese Ebenen von Funktion existieren sowohl nebeneinander als auch miteinander, d.h. es gibt Momente in der Musik, die nur in einer Ebene wirken, als auch solche, die sich auf verschiedenen Ebenen auswirken. In der Tanzmusik wirkt der Takt in der ersten Ebene (z.B. Dreivierteltakt) als unmittelbarer Bestandteil der Musik. Genauso wirkt er in der dritten Ebene, indem er die Tanzmusik als solche prägt und diese z.B. Geselligkeit hervorruft.
Was im "Volksmund" als funktionelle Musik bezeichnet wird, beschränkt sich meist auf die erste Ebene (fungiert in der Sache). So verhält es sich mit Hintergrundmusik, Kaufhausmusik oder Arbeitsmusik, für die klare musikalische Richtlinien erarbeitet wurden. So sollen in der Kaufhausmusik (genauer: Kommerzstimmung erzeugende und verkaufsstimulierende Musik) Frequenzen unter 800 Hz und über 8000 Hz herausgefiltert werden, eine gedämpfte Lautstärke herrschen, keine unvermittelte Rhythmusänderungen vorgenommen werden, etc.[10:31]. Den begrifflichen Rahmen der funktionellen Musik auf die gesamte Musikliteratur auszudehnen, wäre unsinnig. Damit würde keine spezifische Eigenschaft herausgehoben, sondern nur ausgesagt, daß jegliche Musik irgendeine Funktion erfüllt. Vielmehr scheint es sinnvoller, von der Funktion oder Wirkung von Musik zu sprechen und damit das Fungieren in den oben genannten Ebenen auszudrücken. Die Bezeichnung "funktionelle Musik" sollte weiterhin im hauptsächlichen Rahmen der ersten (und vielleicht auch vierten) Ebene aufgefaßt werden, wobei man sich einer Wortprägung EGGEBRECHTs anschließen könnte, daß das Fungieren in der Sache ein Wesentlichkeitsmerkmal darstellen sollte.

2.1.2. Dimensionen der Musik

Um Musik in Komponenten aufzuteilen, gibt es vielfältige Möglichkeiten. Die einzelnen Komponenten werden im weiteren Dimensionen genannt, da die naturwissenschaftliche Deutung dieses Begriffs dieser Aufteilung in einzelne Bestandteile nahe kommt. Es ist aber keine zwingende Begriffsbildung.
Die Musik kann in drei Dimensionsgruppen aufgeteilt werden:

  1. physikalische Dimensionen (Tonhöhe, Klangfarbe, Lautstärke, Akustik, etc.)
  2. musikalische Dimensionen (Melodie, Harmonie, Rhythmus, Tempo, Dynamik, etc.)
  3. historische Dimensionen (Entstehungsgeschichte, Aufführungspraxis, Wirkungsgeschichte, etc.)
Es kommt zu Überschneidungen zwischen den einzelnen Gruppen. So bedingen sich Lautstärke und Dynamik einander, ebenso wie Tonhöhe und Melodie oder Aufführungspraxis und Akustik usw. .
Diese Aufteilung birgt aber die Möglichkeit, den einzelnen Gruppen Funktionsebenen zuordnen zu können und deren Wechselwirkung zu beschreiben.

1.physikalische Dimensionen
Die physikalischen Dimensionen wirken sich fast ausschließlich in der ersten Funktionsebene (es fungiert in der Sache) aus. Sie sind in der Regel so tiefliegend, daß es fast unmöglich ist, eine direkte Wirkung im Sinne von Affekten durch sie zu erfassen. Doch haben sie Einfluß auf die Beurteilung der Qualität einer Aufführung bzw. der Verständlichkeit. Eine schlechte Akustik, ungeeignete Instrumentierung, verstimmte Instrumente können die Wirkung von Musik, und damit deren Funktion, in völlig andere Bahnen lenken. Die o.g. Beschränkung der Tonhöhe in der Kaufhausmusik fließt auch als physikalische Dimension in die erste Ebene ein. Genauso hat z.B. die Lautstärke unmittelbaren Einfluß auf eventuelle Hörschäden. Die anderen Ebenen werden von den physikalischen Dimensionen nicht unmittelbar berührt. In der Zusammenstellung und Vervielfältigung ergeben sich aus den physikalischen Teile der musikalischen Dimensionen und spielen auf diese Art mittelbar in andere Funktionsebenen hinein.

2.musikalische Dimensionen
Ähnlich wie die physikalischen wirken die musikalischen Dimensionen hauptsächlich in der ersten Ebene. Allerdings steht mit ihnen auch der ganze Begriffsapparat der Musiktheorie, Affektenlehre, Ästhetik usw. zur Verfügung. Er erleichtert, Funktionen aus der Musik abzuleiten und nachzuweisen. So können die Unterscheidung zwischen Moll( und Durtonarten, die Taktarten, Rhythmus oder Tempi schon auf die Wirkung des Musikstückes schließen lassen. Eine Funktion eindeutig aus den musikalischen Dimensionen ableiten zu können, ist dennoch selten möglich. Dazu ist die Musiktheorie, Ästhetik etc. zu vielschichtig und umfangreich und läßt zu viele Meinungen zu (was kein Nachteil sein soll). Vielmehr wird es meist Möglichkeiten geben, auf mehrere Weisen auf Funktionen zu schließen.
Die Kopplung von musikalischen Strukturen mit bestimmten Affekten zieht eine bestimmte Anwendung dieser Musik nach sich. Daß heißt, aufgrund der musikalischen Struktur wird entschieden, zu welchen Anlässen diese Musik aufgeführt bzw. gehört wird. So ist aus der Struktur des Musikwerkes heraus die Intention festgelegt, wie und wo es rezipiert werden kann. Diese Intention existiert unterschwellig und muß nicht unbedingt verbalisiert werden. Sobald der Hörer fähig ist, die Struktur eines Musikstückes zu erfassen und einzuordnen, wird er bewußt oder unbewußt dem Stück eine Intention zuschreiben, mit der es komponiert wurde oder aufgeführt wird. Wenn umgekehrt der Rezipient die Struktur eines Musikwerkes kennt und es gerade deswegen zum Klingen bringt (durch Abspielen von Tonträgern etc.), so reproduziert er nicht nur das reine Klangereignis, sonder damit auch die Intention, mit der es geschaffen wurde. An dieser Stelle findet eine Wechselwirkung zwischen der ersten und der zweiten Funktionsebene statt.
Aus den musikalischen Dimensionen kann ein Musikstil bzw. eine Musikrichtung bestimmt werden. Dadurch wird im Hörer von vornherein eine Einstellung zur Musik erzeugt. Selbst wenn der Hörer nicht fähig ist, den Musikstil zu benennen, weiß er aber genau, welcher es nicht ist. Auch hier gewinnt er wieder eine Intention gegenüber dem Musikstück in Abgrenzung zu ihm bekannten Stücken. Auf diese Weise lassen musikalische Dimensionen Schlußfolgerungen auf Funktionen der zweiten Ebene zu.

3.historische Dimensionen
Ausschließlich auf die zweite und dritte Funktionsebene wirken die historischen Dimensionen. Der Umgang mit einem Musikwerk vom ersten Denken an dieses Musikwerk bis zum gegenwärtigen Gebrauch spiegelt sich in den historischen Dimensionen wieder. Dabei kann man die Historie eines Werkes nicht losgelöst von den physikalischen oder musikalischen Komponenten betrachten, bestimmen diese doch entschieden, wie, wo und wie oft ein Werk aufgeführt wird. Die historischen Dimensionen umfassen darüber hinaus aber auch Wechselwirkungen mit der Gesellschaft, binden den Komponisten wie aufführenden Musiker in den historischen Prozeß ein.
Zu den Intentionen, die aus innermusikmualischen Zusammenhängen folgen, gesellen sich jetzt noch solche, die durch den Gebrauch bestimmt werden bzw. den Gebrauch bestimmen. Nationalhymnen zum Beispiel wurden selten als solche komponiert. Vielmehr ergibt sich ihre Funktion aus einem bestimmten historischen Gebrauch, der dann wieder den Gebrauch, eben als Nationalhymne, bestimmt hat. Hier hängen die Funktionen zeitlich voneinander ab.
Das Charakterisierende der historischen Dimensionen ist der Prozeßcharakter, der ihnen anhaftet. So können in der Regel nicht einem ganzen historischen Prozeß eine bestimmte Funktion der einzelnen Funktionsebenen zugeordnet werden, sondern die Funktionen können sich innerhalb des Prozesses ändern. Die Zuordnung kann nur für Abschnitte im Prozeß erfolgen. So hängt die Aufführungspraxis sehr eng mit der Intention der Musikschaffenden zusammen, die sich, gerade gegenüber alter Musik, stark ändern kann. Bestes Beispiel dafür ist die aktuelle Diskussion um das richtig Tempo von Musikwerken, die vor der Erfindung des Metronoms geschaffen wurden. Die Wirkungsgeschichte ist stark mit der Intention der Rezipienten verbunden. Diese Intention ist vor allem im zwanzigsten Jahrhundert, aber auch schon davor, von Modeerscheinungen beeinflußt. So wird nur Musik gehört, die dem aktuellen Zeitgeschmack entspricht. Anderes gerät mehr oder weniger in Vergessenheit und muß dann wiederentdeckt werden (sofern dieses noch möglich ist). So zum Beispiel in der Orgelbewegung am Anfang dieses Jahrhunderts geschehen.
Eine Zuordnung von Funktionen zu einzelnen Abschnitten eines historischen Prozesses setzt eine historisch begründbare Abgrenzung dieser Teile voraus. Dabei können die Funktionen selbst einen Prozeß bilden, der sowohl zeitlich als auch örtlich variiert. Ein Musikwerk wird innerhalb der historischen Dimensionen als geschlossenes Objekt betrachtet und gleichzeitig als Gegenstand, der aus sich selbst heraus wirken kann.

2.2. Eröffnungskonzerte und deren Funktion

Eröffnungen stellen in der Regel einen feierlichen Anlaß dar. Dementsprechend erwartet man hymnische, den Anlaß unterstreichende Musik, die zum Zeitpunkt der Eröffnung wirken soll. Die Musik muß so eingängig sein, daß sie im Augenblick des Hörens auch verstanden werden kann. R.SPECHT beschreibt dies so: "Was schon in der Natur derartiger Schöpfungen liegt, die sofort allgemein verständlich und wirksam sein, nicht durch Kühnheiten verwirren sollen , und auch nicht durch eine dichterische Idee zu Formbildungen besonderer Art gebracht werden"[9:322]. Nun läßt sich unterscheiden, ob das Musikwerk wirklich nur zu diesem Anlaß komponiert wurde und auch nur dort gespielt werden soll, oder diesem Anlaß gewidmet wurde, aber doch darüber hinaus aufgeführt werden soll. WAGNERs "Festmarsch" ist nur für die Eröffnung der Weltausstellung gedacht (siehe Kap. 3.2.). Dagegen steht WIDORs dritte Symphonie, die auch über den Anlaß hinaus gespielt werden kann und soll (das kann vielleicht aus der Numerierung der Symphonie, und somit Eingliederung in sein sinfonisches Schaffen, abgeleitet werden). Also können zwei Typen von Kompositionen klassifiziert werden: 1. die Komposition nur für den Anlaß, 2. die dem Anlaß gewidmete Komposition. Der erste Typ ist natürlich ein Teil des zweiten. Je nach Typ gibt es eine mehr oder weniger starke Einbindung der Funktion in die Musik, das heißt eine Funktion der ersten Ebene. In der "Komposition nur für den Anlaß" wird versucht, den Charakter des Anlasses in der Musik wiederzuspiegeln. Das geschieht mit Mitteln der physikalischen und musikalischen Dimensionen. Wiederum SPECHT spricht von einer "gewissen summarisch dekorativen, bloß auf pomphaften Klang und nicht auf symphonisch-thematische Entwicklung bedachten Rhetorik" [9:321]. Aber auch musikalische Bezüge aus der Musikgeschichte, die am Ort der Eröffnung wirkt, Remineszenzen an ältere Komponisten oder der dort heimischen Volksliedkultur finden Einfluß. Auf diese Art wird eine Beziehung zum Anlaß und zum erwarteten Hörer hergestellt, die dieser auch erkennen kann. In lediglich dem Anlaß gewidmeten Kompositionen bewahrt der Komponist seine künstlerische Autonomie in dem Sinn, daß er Funktionen der ersten Ebene nicht vordergründig in das Musikstück einbindet, sondern eher seiner eigenen Intuition und seinem eigenen Stil folgt (ohne aber den Anlaß als Intention aus dem Auge zu verlieren).
Neben der Funktion der ersten Ebene besitzen Eröffnungskonzerte auch eine Funktion der zweiten Ebene, allein dadurch, daß sie für einen bestimmten Zweck komponiert wurden. Daß diese Bestimmung einmalig und nicht wiederholbar ist, stellt eine Besonderheit der Eröffnungskonzerte dar. So richtet sich die Intention des Komponisten sowie der Aufführenden als auch der Hörer auf diesen einmaligen Anlaß. Zur ersten Aufführung, also zur Eröffnung eines Gebäudes etc., besitzten alle Beteiligten an diesem Musikwerk dieselbe Intention gegenüber der Musik nur aus unterschiedlicher Richtung (aktiv als Musikschaffende oder passiv als Rezipient). Eine solche Übereinstimmung wird wahrscheinlich bei den wenigsten Kunstwerken erreicht. Dadurch ist der Erwartungdruck gegenüber den Musikschaffenden natürlich viel höher als bei Musikwerken mit unscharf umrissenen Intentionen bzw. solchen, bei denen die Intention vorerst nicht bekannt zu sein braucht.
Ist dieser einmalige Anlaß geschehen, ändern sich die Funktionen der Eröffnungskonzerte völlig. Die meisten landen wohl auf dem "Müllberg" der Musikgeschichte, soll heißen: sie werden garnicht oder nur sehr selten aufgeführt, Tonträger sind selbst in der Gegenwart kaum zu bekommen, musikwissenschaftliche Anerkennung bzw. Berücksichtigung findet kaum statt. Und doch besitzen sie eine Funktion, die wohl von den wenigstens Komponisten intendiert wurde und auch nicht die Absicht heutiger Aufführungen ist: die Funktion der Erinnerung. Ein Eröffnungskonzert ist Zeit seiner Existenz mit dem Anlaß verbunden, zu dem es komponiert wurde. Wenn der Anlaß nicht schon im Titel enthalten ist (z.B. "Olympisches Festspiel" von CARL ORFF), spätestens mit Nennung des Entstehungsjahres fällt auch das Augenmerk auf den Anlaß seiner Entstehung. Sowohl Hörer als auch Musiker werden so auf ein vergangenen Ereignis gestoßen, welches sonst in den Tiefen der Geschichte versunken und nur von Interessierten oder Spezialisten wiederentdeckt und gewürdigt worden wäre. Allerdings steht bei der Wiederaufführung von Eröffnungskonzerten diese Funktion meist nicht im Vordergrund.
Eröffnungskonzerte wiederaufzuführen heißt, exotisches zu reproduzieren, kleine Gelegenheitsarbeiten von bekannten Komponisten wiederzugeben. Ein Musikprogramm gewinnt dadurch an Orginalität und zieht dadurch bestimmte Personenkreise an. In der Regel schreckt solche Orginalität aber auch genug Personenkreise ab, so daß es zu der verschwindenen Zahl von Aufführungen kommt (ein allgemeines Problem in der Musik). Dabei sind die Musikwerke, die zwar dem Anlaß gewidmet, aber nicht ausschließlich für ihn komponiert wurden, durchaus gleichrangig mit den übrigen Werken desselben Komponisten zu sehen. So können Eröffnungskonzerte nicht losgelöst von der persönlichen Entwicklung eines Komponisten betrachtet werden. Die biographischen Rückbezüge finden sich hier genauso wie in den anderen Werken eines Komponisten. Hier erhalten Eröffnungskonzerte (wie im übrigen alle Musik) eine Funktion der dritten Ebene, nämlich die Biographie des Komponisten zu stützen und zu überliefern. Die Besonderheit bei Eröffnungskonzerten ist aber, daß der Komponist nicht nur mit dem Musikwerk in Beziehung gesetzt wird, sondern von vornherein mit dem Anlaß der Eröffnung. Damit muß er in Wechselwirkung mit diesem Anlaß und den damit verbundenen Personen getreten sein.

3. Einzelne Aspekte an Musikwerken nachvollzogen

3.1. Richard Wagner - Großer Festmarsch WWV 110

Als die Weltausstellungen längst eine angesehende Tradition hatten, ergab sich für die Amerikaner 1876 die Gelegenheit, die Weltaustellung mit den Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen der amerikanischen Unabhängigkeit zu verbinden. So wurde in Philadelphia ein Ereignis vorbereitet, das die vorangegangenen und viel bewunderten Weltausstellungen von Paris 1867 und Wien 1873 überbieten sollte. Gleichzeitig sollte diese Ausstellung den amerikanischen Geist und die amerikanische Identität in Vergangenheit und Gegenwart zur Darstellung bringen. Daher ist es verwunderlich, daß RICHARD WAGNER - ein Deutscher -, beauftragt wurde, eine Komposition für diesen Anlaß zu schaffen. Dieser Umstand ist wohl darauf zurückzuführen, daß Amerika zu dieser Zeit keinen Komponisten dieser Geltung hatte. Dazu kommt das Wirken des deutschstämmigen, aber in Amerika lebenden, Dirigenten THEODORE THOMAS (1835-1905). Dieser setzte sich für die Aufführung von Werken europäischer Komponisten in Amerika ein und war auch der direkte Auftraggeber für den Großen Festmarsch. WAGNER verlangte für dieses Auftragswerk ein Honorar von 5000 Dollar, überließ die Aufführungsrechte in Amerika aber Thomas. In Europa war er sowieso an den Musikverlag B.Schott's Söhne in Mainz gebunden.
So macht sich der inzwischen 63-jährige WAGNER daran, innerhalb von eineinhalb Monaten den Festmarsch zu komponieren. Es ergeben sich jedoch Probleme, da er aus dem "sogenannten Componiren gänzlich herausgekommen"(1) war. Gegenüber seiner Frau klagt er darüber, "daß er sich bei dieser Komposition gar nichts vorstellen könnte [...] außer 5000 Dollars"(2). Daß er trotz seiner Verpflichtungen an Theatern in Wien und Berlin diese Komposition zu Ende brachte, ist wohl zum Teil diesem Anreiz des Geldes zu verdanken. So sagte WAGNER selbst: "Wissen Sie, was das Beste an dem Marsche ist?....Das Geld, welches ich dafür bekommen habe"(3). Das Geld wurde vom "Women's Centennial Committee" in Philadelphia aufgebracht, das sich dafür aber wünschte, "der Marsch möge ihnen gewidmet sein"(4).
So wurde der Marsch am 10. Mai 1876 in Philadelphia unter THOMAS uraufgeführt. WAGNER selbst hatte keine große Meinung über das von ihm vollbrachte Werk. Er bezeichnete es als "Promenadekonzertmusik"(5), "keine zwanzig Takte [...], die werth sind, angehört zu werden"(6).
In diesem Sinne ist diese Arbeit eine Gelegenheitsarbeit. Sie ist nicht vergleichbar mit seinen großen Werken und fällt in gewissen Maße aus seinem Gesamtwerk heraus. Er schrieb "zum ersten Mal um Geld"(7) und so fehlte im der innere Drang, der eine Komposition hervorbringt. Vielmehr ist der Marsch als ein Produkt von handwerklichen Können zu betrachten, freilich nicht ohne die typische Art WAGNERs.
Aus dieser Entstehungsgeschichte heraus kann nun die Art der Funktion des Marsches zur Eröffnung der Weltausstellung betrachtet werden. Die Intention des Komponisten war, ein Werk für die Feierlichkeiten zu schaffen. Aber daneben wirkt genauso stark die Intention, mit einer Fähigkeit, nämlich komponieren zu können, und einem gewissen Ansehen eine damals nicht unbedeutende Summe Geld zu verdienen. Wie ein solches Werk anzulegen und zu komponieren sei, war ihm bekannt, da er von vornherein den Vergleich mit dem Kaisermarsch zog(8). Fehlte ihm nur noch eine Idee, ein Motiv, welches sich lohnte umzusetzen. Ob die Ähnlichkeit mit dem Motiv "im Eingange der Ouvertüre zu 'Iphigenie'"(9) von CH.W.GLUCK beabsichtigt war oder nur zufällig, kann nicht nachvollzogen werden. Unbekannt war ihm dieser Umstand aber nicht, denn er sagte bei der europäischen Erstaufführung am 2.Juli 1876 zum Orchester: "Meine Herren, heute ist Glucks Geburtstag. Ihm zu Ehren wollen wir den neuen Marsch spielen"(10). So ist die Intention WAGNERs beim Komponieren nicht ausschließlich auf die Eröffnungsfeierlichkeiten gerichtet. Davon zeugt auch seine umsichtige Mühe, noch während des Komponierens und kurze Zeit später die Verlags- und Aufführungsrechte zu organisieren.
Von Seiten der Aufführenden am 10. Mai 1876 in Philadelphia, also von TH.TOMAS und dem "Damen-Comité"(11), wurde die unbedingte Zugehörigkeit des Marsches zu diesem Anlaß intendiert. So kann aus der Entstehungsgeschichte eine Funktion der zweiten Ebene (die Sache fungiert intentional) abgeleitet werden. Bei späteren Aufführungen mit Konzertcharakter verliert das Werk seinen Eröffnungscharakter. Aber es erhält zusätzlich die Funktion des Entsinnens, denn es wird selten losgelöst vom Gedanken an die Eröffnung der Weltausstellung aufgeführt. Bis heute erinnert man sich aufgrund des Werkes (nicht ausschließlich) an diese Ausstellung, ihren Ort, ihre Zeit und den Anlaß der hundertjährigen Unabhängigkeit Amerikas. An dieser Stelle hat sich eine Funktion der dritten Ebene entwickelt.

3.2. Richard Strauß - Festliches Präludium op.61

"Es ist alles, nur kein Gelegenheitswerk"(12).
Seit der Uraufführung am 19. Oktober 1913 im neuen Konzerthaus in Wien konnte von verschiedenen Autoren und Biographen nicht entschieden werden, ob es nun ein Gelegenheitswerk ist oder nicht. Warum wird soviel Wert auf diese Klassifizierung gelegt? STRAUß steht kurz vor dem Schaffen der Alpensinfonie. Die Anlage und vor allem die Instrumentierung des Festlichen Präludiums lassen vermuten, daß STRAUß sich ausprobiert, daß er die Mittel eines so großen Orchesters auslotet. Immerhin verlangt er 150 Musiker, davon allein 96 Streicher. In seiner kompositorischen Entwicklung ist dieses Werk unbedingt als Vorstufe zur Alpensinfonie zu betrachten. Insofern war der Auftrag des Wiener Konzertvereins für ihn eine Gelegenheit.
Nun besteht der Drang, musikalische Werke, die nicht in einen großen musikalischen Kontext, wie etwa einer Sinfonie oder Oper o.ä., eingebunden sind, als Gelegenheitsarbeiten abzustempeln. Genauer hingesehen, verbirgt sich dahinter eine künstlerische Abwertung und manchmal vielleicht sogar eine gewisse Verachtung. "In Amerika oder wo sonst man in der Kunstindustrie das Überdimensionale liebt, kann es [das Festliche Präludium] noch gute Dienste leisten"(13). Der Gegenpol existiert aber genauso: "Ein Gelegenheitswerk. Aber ohne die äußeren Zeichen eines solchen. Es ist grandios 'gearbeitet', wie für die Ewigkeit gemauert"(14). Es fällt auf, daß Beschreibungen und Aufarbeitungen dieses Werkes selten neutral geschrieben wurden. Der Autor wollte oder mußte sich immer dazu positionieren. Diese Entwicklung in Gang gesetzt hat vielleicht JULIUS KORNGOLD mit seiner Kritik in der Neuen Freien Presse am 21.10.1913. Dieser verbindet den Begriff der "Gelegenheitskomposition" und eine herbe künstlerische Abwertung in seinem Artikel, allerdings nicht ohne auf seine ausschweifende Polemik zu verzichten. Seitdem sehen sich Autoren genötigt, nicht nur zum Präludium, sondern auch zu KORNGOLDs Artikel Stellung zu beziehen.
Dabei baut KORNGOLD seine Kritik darauf auf, daß das Präludium akustisch ungeeignet für das Konzerthaus ist, sondern eher für ein "großes Musikfest in einer für Massenwirkung berechneten Festhalle"(15) gedacht wurde. Das läßt vermuten, daß STRAUß den Sinn der Eröffnung des Konzerthauses nicht im Festlichen Präludium integriert hat, daß er eher seiner eigenen musikalischen Entwicklung folgte und diese willkommene Möglichkeit aufgriff, ein Übungsstück für die Alpensinfonie zu komponieren. Aber so einfach machte er es sich doch nicht. Viele Autoren honorieren die Anklänge an Beethoven, Weber, Brahms etc.; Anklänge, die dem damaligen Wiener Konzertpublikum aufgefallen sein dürften (aufgrund der Hörgewohnheiten). Solche stilistischen Parallelen stellen eine Reminiszenz an die Stadt Wien und somit auch an das Konzerthaus dar. Diese stilistische Eigenart kann als musikalische Dimension aufgefaßt werden, die als Funktion der ersten Ebene wirkt. Die Anlehnung des Stils an klassische Momente kann heute immer noch nachvollzogen werden. Aber die Wirkung auf das Wiener Konzertpublikum bei der Eröffnung kann nicht mehr erreicht werden. Zur ohnehin festlichen Stimmung in einem prächtigen Neubau kommt dann in Form von Musik eine Hommage an die Stadt Wien und ihre Musikkultur. Ein Ereignis, daß in seiner Einmaligkeit nur damals begriffen werden konnte. So erfüllt das Präludium mit seinem feierlichen, wenn nicht sogar pompösen Charakter die Aufgabe (Funktion der ersten Ebene), daß Eröffnungskonzert in seiner Bedeutung zu unterstreichen.
JULIUS KORNGOLD investiert noch eine eigene Intention in dieses Konzert. So möchte er "über die Akustik des Saales sofort von Beginn an Klarheit"(16) haben. Dazu war seiner Ansicht nach das Stück wenig geeignet. Auch der Rezensent der Arbeiter-Zeitung beklagt, daß das Stück "noch keinen rechten Anhaltspunkt zur Beurteilung der Akustik bieten"(17) konnte. In diese Richtung betrachtet hat das Präludium die beabsichtigte Wirkung verfehlt. Bedenkt man die Ausmaße des Orchesters, sind diese Gedankengänge wohl nachvollziehbar. Dabei war selbst bei der Uraufführung das Orchester nicht so groß, wie es hätte sein sollen. Wie hätte ein Musikwerk aussehen sollen, damit die Akustik erprobt werden konnte? Hätten alle dynamischen Stufen in allen Klangfarben ertönen sollen? Dann wäre es sicherlich keine Musik und bestimmt kein STRAUß mehr gewesen. Die Akustik eines Saales erfährt man nicht an einem einzelnen Stück, sondern in der Vielfalt von Aufführungen, die den Saal von verschiedenen Seiten 'beleuchten'. So ist die Forderung KORNGOLDs nur sehr eingeschränkt erfüllbar. STRAUß ging den sicheren Weg, so er sich nicht darauf eingelassen hat, sondern seiner eigenen Inspiration folgte.

4. Ausblick

Zu den Eröffnungskonzerten ist noch viel dem Vergessen zu entreißen, aus der Versenkung der Geschichte zu holen. Auch wenn sie ihre ursprüngliche Funktion verloren haben, die meisten sind durchaus konzertfähig und stehen gleichrangig neben den anderen Werken eines Komponisten. Eine neue Bedeutung könnten sie erlangen, wenn sie an den Jahrestagen der Anlässe wiederaufgeführt würden, zu denen sie komponiert wurden. Stellt sich zum Beispiel die Frage, ob STRAUß' "Festliches Präludium" jemals wieder im Wiener Konzerthaus aufgeführt wurde. Mit dem aktuellen Trend, historische Konzertprogramme wiederaufzuführen, bestände auch für Eröffnungskonzerte die Möglichkeit einer "Wiederbelebung".
Von musikwissenschaftlicher Seite wird wahrscheinlich niemand in naher Zukunft den Aufwand treiben, sich ausführlich mit diesen Musikwerken auseinanderzusetzten. Es wird wohl eher zufällig mal das eine oder andere Eröffnungskonzert aufgearbeitet. Für diese Aufarbeitung Anhaltspunkte zu geben, hat diese Arbeit versucht. Um die theoretisch erarbeiteten Mittel umfangreich auf musikalische Beispiele anwenden zu können, fehlt bisher die musikhistorische Vorarbeit, daß heißt, eine grundsätzliche Aufarbeitung von geschichtlichen Material zu diesen Musikwerken und ihrem Kontext. Das wäre ein möglicher Ansatzpunkt, um in diese Richtung weiterzuarbeiten.

5. Kleiner Index von Eröffnungskonzerten

van Beethoven, Ludwig
Dufay, Wilhelm
Nyman, Michael Orff, Karl Salieri, Antonio Strauß, Eduard Strauß, Johann (Sohn) Strauß, Joseph Strauß, Richard Wagner, Richard Widor, Charles Marie

6. Literaturverzeichnis

(Literaturangaben zu einzelnen Musikwerken sind im "Kleinen Index" angegeben.)

[1]Adorno,Theodor W., Funktionalismus heute, in: Ohne Leitbild
[2]Benjamin,Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 1994
[3]Carlsson,G., Betrachtungen zum Funktionalismus, in: Logik der Sozialwissenschaften, Hrsg. Ernst Topirsch, Köln-Berlin 1968
[4]Dahlhaus,Carl, Über die "mittlere Musik" des 19. Jahrhunderts, in: Das Triviale in Literatur, Musik und bildender Kunst, Hrsg. Helga de la Motte-Haber, Frankfurt am Main 1972
[5]Eggebrecht,Hans Heinrich, Funktionale Musik, in Archiv für Musikwissenschaft 1/1973
[6]Leeuven,T. van, Was ist funktionelle Musik, HiFi, Stuttgart 11/80, S.1386
[7]Meissner,R., Funktioniert die funktionelle Musik?, Musik und Bildung, Mainz 67 (1976), H.11, S.573-577
[8]Reinecke,Hans-Peter, Funktionelle Musik, in: Musik und Entspannung, Hrsg. Harm Willms, Stuttgart 1977
[9]Specht,Richard, Richard Strauß und sein Werk, Bd.1, Leipzig Wien Zürich 1921
[10]Stromeyer,Markus, Die Anwendung der "Funktionalen Musik" im Marketing, Diss. St.Gallen 1981
[11]Stürzbecher,Ursula, Das große Fragezeichen hinter einer gesellschaftspolitischen Funktion der Musik, Melos-Zeitschrift für neue Musik, Mainz 39 (1972) H.3, S.142-149
[12]Vötterle,K., Soziale Umschichtung und die Funktion von Musik, Hausmusik 1951, H.6,S.155
[13]Richard Wagner, Sämtliche Werke Bd.18,III, Schott Musik International, Mainz 1995

Fußnoten:

(1) Brief an Gottlieb Federlein in New York, Bayreuth 22. Dezember 1875
(2) Tagebuch Cosima Wagners, 14.Februar 1876
(3) Persönliches über Richard Wagner, von August Lesimple
(4) Tagebuch Cosima Wagners, 25.März 1876
(5) Tagebuch Felix Mottls, 2. Juli 1876
(6) Mitteilung Edward Dannreuthers (enthalten in [13])
(7) Tagebuch Cosima Wagners, 11. Februar 1876
(8) Brief an Theodore Thomas in New York, Bayreuth, 8. Februar 1876
(9) Persönliches über Richard Wagner, von August Lesimple
(10) Persönliches über Richard Wagner, von August Lesimple
(11) Tagebuch Cosima Wagners, 25.März 1876
(12) Reinhold Muschler, Richard Strauß, Hildesheim, S. 513
(13) Fritz Gysi, Richard Strauß, Potsdam 1934, S.72
(14) Richard Specht, Richard Strauß und sein Werk, Wien 1921, S.321
(15) Julius Korngold, Feuilleton, Neue Freie Presse 21.10.1913
(16) Julius Korngold, Feuilleton, Neue Freie Presse 21.10.1913
(17) Arbeiter-Zeitung Wien, 20. Oktober 1913

mrw@x0b.de, Mai 1996